Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

Von Stefan,

Wichtigstes in Kürze:
Vor allem Jugendliche, aber ebenso auch junge Erwachsene verletzen sich in emotional stark belastenden Situationen bis hin zur Regelmäßigkeit selbst. Hierbei liegt der Anteil an weiblichen Betroffenen höher, wenn auch männliche Jugendliche gleichermaßen betroffen sein können. Unter selbstverletztendem Verhalten (SVV) versteht man Handlungen zur bewussten Schädigung der Körperoberfläche. Die gewählten Formen wie und die Stellen, an denen sich selbst Verletzungen zugefügt werden, sind unterschiedlich. Häufig liegt die Ursache in einer psychischen Störung.

Bei der Selbstverletzung spielt die Absicht, sich mit dieser selbst das Leben zu nehmen, meist keine Rolle. Beim Zufügen der Verletzung ist es nicht Ziel der Betroffenen ihr Leben zu beenden, sondern vielmehr durch die Auslebung ihrer Emotionen (bspw. Wut, Trauer, Selbsthass) etwaige Tendenzen zum Suizid aufzuschieben und durch die selbstverletztende Handlung zu kanalisieren. So ist selbstverletztendes Verhalten bei Jugendlichen Ausdruck einer starken seelischen und emotionalen Belastung und manchmal auch ein Anzeichen für eine dieses begründende psychische Erkrankung. Diese kann wiederum bei ausbleibender Behandlung langfristig zu Selbsttötungsgedanken und Suzidversuchen führen.


Häufigste Form der Selbstverletzung sind Schnittverletzungen, welche durch beispielsweise Messer, Rasierklingen, Nadeln oder andere scharfe und spitze Gegenstände zugefügt werden (bekannt als ritzen). Diese werden sich von den Betroffenen meist an Händen, Armen und im Gesicht1, aber auch an den Beinen oder im Bereich der Brust oder des Bauches beigebracht. Aber auch andere Formen der Selbstverletzung, wie das Verätzen oder Verbrennen, Beißen erreichbarer Körperstellen, Schläge gegen sich selbst oder wiederholt gegen harte Gegenstände, das Ausreißen von Haaren oder das Besprühen von einer Körperstelle mit Deodorants, bis Erfrierungen auftreten, werden von den Betroffenen gewählt.

Ursachen für selbstverletzendes Verhalten
Selbstverletzendes Verhalten ist häufig die Reaktion auf emotional belastende Umstände oder Ereignisse. Die Betroffenen schaffen es nicht mit den durch diese ausgelösten Gefühlszuständen anders umzugehen. Es ist daher für sie eine Form des Abbaus innerlicher Spannung und zu dem für die Betroffenen eine Bewältigungsstrategie, um ihre negativen Emotionen zu kontrollieren. Betroffene berichten davon durch die Selbstverletzung Empfindungen wie Agression, Einsamkeit oder Selbsthass abschwächen zu können. Es ist häufig die einzig gesehene Möglichkeit des Umganges mit Problemen und belastenden Situationen. Für manche Betroffene ist sich selbst zu verletzen auch eine Art der Selbstbestrafung.

So entwickelt sich das selbstverletzende Verhalten als Bewältigungsstratige beziehungsweise Form des Umgangs mit belastenden Situationen oder negativen Emotionen zu einer Art Sucht. Um die von den Betroffenen als Entspannung empfundende Entlastung zu erreichen, steigert sich häufig die Intensivität der zugefügten Verletzungen (bspw. Schnitttiefe, Anzahl und Häufigkeit). Entsprechend ist das Kennenlernen anderer Bewältigungsstrategien und Umgangsformen wichtig, damit sich Betroffene nicht mehr selbst verletzen.

Falsche Annahmen zum selbstverletzenden Verhalten
Des Öfteren wird selbstverletzendes Verhalten vom Umfeld als pubertäres Verhalten bezeichnet, welches allerdings keinesfalls zutreffend ist, denn auch Erwachsene können selbstverletzendes Verhalten zeigen. In der Gruppe der 15- bis 35-Jährigen zweigen etwa zwei Prozent klinisch relevantes selbstverletztendes Verhalten2. Ebenso ist die generelle Zuordnung zur Gothic-Szene, oder anderen, beispielsweise satanistischen Sekten oder ähnlichen Gruppierungen unzutreffend. Zwar kleiden sich eventuell betroffene Jugendliche dunkler, jedoch zumeist mit anderer Motivation (bspw. Ausdruck der Grundstimmung, Anpassung an einen modischen Stil). Auch ist das selbstverletzende Verhalten kein Phänomen der heutigen Zeit, bereits Sigmund Freud beschrieb dieses als "den Übergang von verhinderter Aggression in Selbstzerstörung durch Wendung der Agression gegen die eigene Person".

Hilfe für Betroffene

Als Betroffener von selbstverletzenden Verhalten ist es wichtig zu wissen, dass es verschiedene Wege und unterschiedliche Hilfsangebote gibt, um das Zufügen von Selbstverletzungen aufzugeben. Auch wenn es schwierig wirkt, da die Selbstverletzung als gute Möglichkeit zur Lösung innerlicher Spannung oder Verarbeitung negativer Emotionen empfunden wird, sollten dennoch langfristige Folgen nicht außer Acht gelassen werden. Zu diesen zählen nicht nur die Bildung von Narben, die den weiteren Lebensverlauf von der Selbstverletzung zeugen werden und die das eigene Selbstwertgefühl so langfristig beeinflussen können.

Alternative Strategien
Es gibt eine Vielzahl an alternativen Strategien, die Betroffene anwenden können, um sich nicht selbst zu verletzen (sog. Skills). Hierbei muss jeder für sich selber herausfinden, welche ihm persönlich am besten hilft. Deshalb ist es wichtig mehrere Strategien auszuprobieren, wenn beispielsweise die erste nicht zum Erfolg geführt hat. Auch sollte darauf geachtet werden, die Strategien jederzeit anwenden zu können; das heißt, wenn ein Hilfsmittel erforderlich ist, dieses auch griffbereit zu haben.

Möglicher Umgang beim Drang sich selbst zu verletzen:

  • Emotionsausdrücke, beispielsweise intensives Weinen oder lautes Schreien, zulassen
  • Belastende Orte verlassen und stattdessen an der frischen Luft spazieren oder joggen gehen
  • Durch Aktivität (Sport treiben, Hausaufgaben oder -arbeiten erledigen, etwas Neues wie ein Musikinstrument lernen) für Ablenkung sorgen
  • Emotionen kreativ ausleben und verarbeiten, beispielsweise durch Zeichnen oder Malen, schreiben von Gedichten, Liedtexten oder Kurzgeschichten
  • Sich selbst etwas Gutes tun, wie zum Beispiel ein entspanntes Bad nehmen, ein Buch oder Comic lesen, einen Film anschauen oder laut Musik hören
Dem Drang, sich selbst zu verletzen, vorbeugen oder kontrollieren:
  • Belastende Situationen, Orte (beispielsweise an denen sich sonst verletzt wird) und Gedanken vermeiden und nicht zulassen
  • Den Gegenstand, mit dem sich sonst selbst verletzt wird, gegen etwas anderes (wie die Rasierklinge gegen einen Collegeblock) richten
  • Selbst die Verletzung um 15 Minuten verschieben und, wenn es geklappt hat, es weitere 15 Minuten versuchen (the fifteen-minutes game)
  • Sich selbst Fragen stellen (Warum mache ich es? Was sind die Folgen? Hilft es mir wirklich?)
  • Wenn es gar nicht anders geht, sich die Selbstverletzung erlauben aber vorher selber Grenzen setzen (bspw. nur einen Schnitt) und diese einzuhalten versuchen
Mögliche Alternativen zur Selbstverletzung:
  • Ein Gummiband um das Handgelenk legen und es schnalzen lassen
  • Eiswürfel feste auf die Haut drücken beziehungsweise sie fest in der Hand halten oder eiskalt duschen gehen
  • Versuchen, ein Telefonbuch zu zerreißen oder ein rohes Ei zu zerdrücken
  • Auf ein Kissen oder eine Matratze einschlagen (eventuell einen "Wutball" gestalten, der geknetet, geworfen und angeschrien werden kann)
  • Rote Linien mit einem wasserlöslichen Filzstift auf die Haut malen
  • Kontakt zu anderen, vertrauten Menschen aufnehmen (beispielsweise mit Freunden treffen oder telefonieren)
Anlaufstellen für Betroffene
Jeder Betroffene, der bereit ist, sich Hilfe zu suchen und diese anzunehmen, sollte sich an eine psychologische Beratungsstelle oder einen Psychologen wenden, um individuell Strategien gegen die Selbstverletzung erarbeiten, aber auch die Ursachen, die zu diesem führen, bearbeiten zu können. Denn so kann am besten langfristig das selbstverletzende Verhalten überwunden und auch die allgemeine Situation verbessert werden.

Die schnellste Hilfe finden Betroffene in einer Beratungsstelle, denn bei Psychologen sind zumeist die Wartezeiten bis zu einem Termin leider länger. Die Beratung in einer Beratungsstelle ist, wie bei einem Psychologen, absolut vertraulich und zudem auch kostenfrei. Hilfe bei der Findung einer nächstgelegenden Beratungsstelle gibt es beim Hilfetelefon zur Suchtvorbeugung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: 0221 / 892031 (montags bis donnerstags von 10:00 - 22:00 Uhr, freitags bis sonntags von 10:00 - 18:00 Uhr)

Informationen für Angehörige und das soziale Umfeld

Für Angehörige (Eltern, ältere Geschwister, Verwandte) und das Umfeld (Freunde, Klassenkameraden / Arbeitskollegen, Lehrer) von Betroffenen stellen sich viele Fragen bezüglich des Umgangs mit selbstverletzenden Verhalten. Zunächst sollte man auf typische Anzeichen für Selbstverletzungen achten und diese richtig deuten, auch wenn deren Erkennung zumeist sehr schwierig ist. Betroffene leiden häufig unter einem gestörten Schlafrhythmus, vernachlässigen ihr soziales Umfeld und gehen ihren Interessen nicht mehr im gewohnten Maße nach. Narben und sichtbare Verletzungen versuchen sie meist durch das Tragen langer Kleidung, auch bei Sport und bei warmer Witterung, zu verbergen. Auch die Veränderung der Stimmung und starke Stimmungsschwankungen sind Anzeichen. In jedem Fall sollten Angehörige und das Umfeld besonders aufmerksam werden, wenn Betroffene von der eigenen Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit erzählen. Sichtbare Warnzeichen sind häufig auftretende Verletzungen, wie beispielsweise:
  • Schnittverletzungen, besonders an Armen und Beinen
  • Schurfwunden
  • punktuelle Verbrennungen oder punktartige Stichverletzungen
  • Hämatome ("blaue Flecken")
Hilfe anbieten und Verständnis zeigen
Betroffene sprechen zumeist nicht mit ihren Angehörigen oder ihrem Umfeld, beispielsweise Jugendliche mit ihren Eltern, über sie belastende Problematiken. Wenn das Umfeld allerdings registriert, dass jemand sich selbst Verletzungen zufügt, also selbstverletzendes Verhalten zeigt, sollte dieses keinesfalls ignoriert werden. Wichtig ist den Betroffenen jedoch nicht unter Druck zu setzen und damit zu rechnen, wenn das Thema offen angesprochen wird, auch mit unglaubwürdigen Erklärungs- und Ausredeversuchen seitens des Betroffenen konfrontiert zu werden.

Ein erstes Gespräch sollte keinesfalls unnötig lang gestaltet oder Erklärungen für das Verhalten eingefordert werden, besser ist die Beobachtungen anzusprechen und die Gesprächs- sowie Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Es sollten keine Vorwürfe gemacht oder Druck aufgebaut, sondern die eigene Besorgnis ausgedrückt werden. Die Empfindungen des Betroffenen sollten jedoch klar im Fokus stehen. Auch wenn der Betroffene nicht aktiv am Gespräch teilnimmt, so folgt er diesem zumindest und hört zu.

Eigene Grenzen beachten
Wenn der Betroffene gerade versorgungsbedürftige Verletzungen aufweist, können diese, soweit sie nicht ärztlicher Behandlung bedürfen, mit Einverständnis des Betroffenen versorgt werden (praktische Hilfeleistung). Sollte einem die Versorgung schwer fallen (bspw. weil die Wunde blutend ist), ist es wichtig zu betonen, dass dieses nicht an der verletzten Person, sondern an der Wunde ("Wenn ich Blut sehe, wird es mir immer mulmig") liegt. Es sollten allerdings auch die eigenen Grenzen zum Ausdruck gebracht werden; eine bedingungslose, selbst als belastend empfundene Unterstützung ist weder für den Helfenden, noch den Betroffenden zielführend.
Stattdessen sollte weitergehende Unterstützung bei der Bewältigung der Ursachen für das selbstverletzende Verhalten, also belastende Situationen oder etwaige, dieses begründende psychische Erkrankungen, angeboten werden. Diese kann zum Beispiel die Begleitung zu einer psychologischen Beratungsstelle oder die gemeinsame Terminvereinbarung bei einem Psychologen sein.

Hilfe zur Selbsthilfe
Betroffene müssen selbst an ihrem Verhalten etwas verändern wollen, damit eine Hilfe von außen wirklich greifen kann. Das selbstverletztende Verhalten sollte keinesfalls als Angewohnheit abgetan, sondern als ernstzunehmende Strategie des Betroffenen betrachtet werden. Wichtig ist auch die individuellen Auslöser, die zur Selbstverletzung führen (bspw. schulischer Stress, Mobbing, Perspektivlosigkeit, soziale Isolation), zu bearbeiten. Seine Unterstützung anzubieten ist richtig, allerdings sollte die Annahme stets dem Betroffenen freigestellt sein. Aufgebauter Druck führt meist nur zu Abwehrverhalten oder weiterem Rückzug. So ist die Signalisierung von Verständnis für den Betroffenen, Ausdruck der eigenen Besorgnis und Bereitschaft zur Hilfeleistung wichtiger, als Vorwürfe, Kontrolle und Erzwingen von Veränderungen.

Selber Rat suchen
Angehörige und das Umfeld von Betroffenen sollten sich idealerweise selber Unterstützung für den Umgang mit dem Betroffenen suchen. Gerade bei Eltern, die verständlicherweise häufig sehr emotional und weniger rational reagieren und bei denen eventuell das Verhältnis zum eigenen Kind bereits durch vorherige Konflikte angespannt ist, sollten sich beraten lassen. Anonymen und kostenfreien Rat geben psychosoziale Beratungsstellen, die es in nahezu jeder Stadt (entweder in städtischer, kirchlicher oder freier Trägerschaft) gibt.



Wichtiger Hinweis:
In keinem Fall dürfen die hier bereitgestellten Informationen als Ersatz für eine professionelle ärztliche Beratung und Behandlung verstanden werden. Sie dürfen nicht verwendet werden, um selbst Diagnosen zu stellen oder eine Behandlung anzufangen. Alle Angaben sind ohne Gewähr auf Richtigkeit.